"Sie haben sicher ein absolutes Gehör?" Diese Frage höre ich als Klavierstimmerin beinahe täglich. Genauer gesagt, es ist weniger eine Frage als eine Feststellung. Ein absolutes Gehör bezieht sich auf die Fähigkeit, einen Ton anhand seiner Frequenz, ohne jegliche Referenz zu identifizieren. Die Annahme dahinter: Ohne absolutes Gehör kann man ja wohl kaum ein Klavier stimmen. Tja, Zeit, mit diesem Mythos aufzuräumen!
Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen – mich eingeschlossen – haben kein absolutes Gehör. Wir verlassen uns auf unser geschultes, über Jahre hinweg trainiertes „relatives“ Gehör. Und das ist auch gut so. Das relative Gehör bezeichnet die Fähigkeit, die Beziehungen zwischen Tonhöhen zu erkennen und zu verstehen. Zum Spaß sage ich manchmal: Ich habe ein "relativ" gutes Gehör. Doch was passiert dann eigentlich beim Stimmen und warum braucht man dafür bevorzugterweise ein relatives Gehör?
Einerseits sieht man sich mit dem Problem konfrontiert, dass das Frequenzspektrum eines Klavieres nicht harmonisch ist. Was bedeutet das schon wieder? Wenn ich auf einem Klavier das a1 anschlage, dann höre ich nicht den Ton a1, sondern ich höre einen Klang. Ein Klang setzt sich aus einem Grundton (Grundfrequenz) und mehreren Teiltönen zusammen. Sind die Teiltöne mit ihrer Frequenz ein ganzzahliges Vielfaches des Grundtons, handelt es sich um einen harmonischen Klang. Allerdings sind die Teiltöne eines Klaviertons keine ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz, es kommt zu kleinen Verschiebungen. Die höheren Teiltöne laufen den verhältnismäßig gediegenen Grundfrequenzen davon. Dieses Phänomen der davoneilenden Teiltöne wird in Fachjargon auch „Inharmonizität“ genannt und ist der Tatsache geschuldet, dass das Saitenmaterial in Länge, Durchmesser und Dichte variiert. Die kleinen Verschiebungen im Bereich der Teiltöne machen den Klang zwar einerseits besonders interessant und lebendig, andererseits sind sie verhängnisvoll, wenn es darum geht in Intervallen, also mehrstimmig zu spielen, denn die Teiltöne eines Tones können sich mit der Grundfrequenz eines anderen Tones spießen, was wiederum unangenehm auffällt.
Hier kommt der/die Stimmer/in als schlichtende Instanz ins Spiel. Mein Lehrmeister hat mir im Zuge meiner ersten Stimmversuche erklärt: Ein Klavier soll nicht stimmen, es soll klingen. Es geht also darum, zwischen den einzelnen Intervallen zu vermitteln, sodass einerseits sowohl die Grundfrequenz als auch die Teiltöne miteinander möglichst im Einklang sind.
Es heißt, aller Anfang ist schwer, und in der Tat erfordert es viel Übung, Ausdauer und Erfahrung, um ein Instrument zum Klingen zu bringen, allein aufgrund der Tatsache, dass ein ungeschultes Gehör nach 20 Minuten intensiven Zuhörens das Handtuch wirft. Diesen Nachteil hatte ich glücklicherweise nicht, da mein Gehör durch jahrelanges Geigespielen bereits trainiert war. Was mir allerdings große Schwierigkeiten bereitete, war die Tatsache, dass ein Klavier aufgrund seiner Inharmonizität niemals vollkommen rein gestimmt werden kann. Ein konfliktbehaftetes Thema, wenn man bedenkt, dass mir mein Lehrer den Kopf abgerissen hätte, hätte ich die Quinten meiner Geige ebenso unrein gestimmt wie die Quinten eines Klavieres. Andere Anfänger haben oft Schwierigkeiten, Teiltöne zu „hören“, da das Gehirn sie automatisch zu einem einzigen Klang zusammenfügt. Dieses Problem hatte ich nicht – im Gegenteil, ich hörte oft "zu viel". Die eigentliche Kunst besteht darin, sich auf die relevanten Schwebungen zu konzentrieren und sich nicht von anderen ablenken zu lassen.
Nun reicht aber selbst das beste Gehör nichts, wenn die Handfertigkeit fehlt. Das Setzen der Stimmnägel ist eine Wissenschaft für sich – eine Wissenschaft, die jede:r Stimmer:in für sich selbst entdecken muss. In welchem Winkel halte ich den Stimmhammer? Mit welcher Kraft schlage ich an? Ziehe ich die Saite etwas über die Zielhöhe und lasse sie dann langsam herunter, oder arbeite ich mich von unten nach oben? Hier gibt es kein Patentrezept. Jedes Klavier hat seine Eigenheiten, und jedes will anders behandelt werden. Nur eines ist sicher: Es braucht unzählige Versuche, Fehler und Korrekturen, um das Fingerspitzengefühl zu entwickeln.
Aber keine Sorge – ein Klavier bietet ausreichend Übungsmöglichkeiten. Mit rund 230 Saiten und ebenso vielen Stimmnägeln kann man eine Menge Erfahrungen sammeln. Und wenn man einmal begonnen hat, dieses Instrument nicht nur zu stimmen, sondern zum Klingen zu bringen, dann weiß man: Das ist weit mehr als nur ein Handwerk – es ist eine Kunst.
von Isabella Hahn